Vielen Dank, Paul Bessler!
Eintracht-Blindenreporter beendet seine Tätigkeit nach 18 Jahren
Eintrachts langjähriger Blindenreporter Paul Bessler kommentierte beim letzten Heimspiel der Saison gegen Viktoria Köln sein letztes Spiel für die Eintracht. 18 Jahre arbeitete er ehrenamtlich an den Spieltagen als "Auge" für die sehbehinderten Löwen-Fans im EINTRACHT-STADION. In Zukunft wird das Team leider ohne ihn auskommen müssen. Grund genug für uns, um gemeinsam mit ihm einen Blick auf seine Verdienste bei den Blau-Gelben und die vergangenen fast zwei Jahrzehnte zu werfen.
1954. Deutschland spielt im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft gegen Ungarn im Berner Wankdorfstadion, in der 84. Minute schallt es aus den Empfangsgeräten. Reporter Herbert Zimmermann kommentiert das umjubelte 3:2 für die DFB-Auswahl durch Helmut Rahn. Wenige Minuten später ist die Partie vorbei. Jedem Fußball-Fan liegen diese Worte noch im Ohr: „Aus, aus, das Spiel ist aus!“ Damals live vor dem Fernseher: der achtjährige Paul Bessler.
2003. 49 Jahre sind seit diesem Moment vergangen. Paul Bessler erfährt von einer Ausschreibung des VfL Wolfsburg für die Stelle als Blindenkommentator. Ihn bewegt das Thema. Als Kind hat er mitbekommen, wie ein Freund bei einem Zwischenfall ein Auge verlor. Als Förderschullehrer ist ihm Inklusion sowieso eine Herzensangelegenheit. Zusammen mit Florian Kneifel bewirbt er sich auf diese Stelle und wird angenommen. Zwei Jahre später rufen sie gemeinsam das gleiche Projekt bei den Braunschweiger Löwen ins Leben. Mit Kneifel gemeinsam sind sie dabei Pioniere der Blindenreportage für den Fußball in der 3. Liga. Die Blau-Gelben stellen alles Nötige zur Verfügung und mit sehr viel Eigeninitiative überwinden die beiden auch die ersten Startschwierigkeiten. Mit der Zeit vergrößert sich das Team immer weiter. Neue Kollegen kommen dazu, Kneifel geht. Die vergangenen neun Jahre wurde Bessler dann unter anderem von Fred Lorenz und drei weiteren Kollegen unterstützt. Was ihn an der Eintracht so fasziniert? „Es ist einfach ein tolles Ambiente. Ich habe die Meisterschaft 1967 miterlebt, bin auf dem Motorrad die Hamburger Straße runtergefahren. Hier sind verrückte Leute und vielleicht gehöre ich auch ein Stück weit dazu.“ Er selber hat sogar eine A-Trainerlizenz und war als „junger Bursche“ bei einem Probetraining des BTSV. Besonders gerne erinnert er sich an den Aufstieg in die 1. Bundesliga zurück. 1967 war er Zuschauer, 2013 saß er im Gegensatz dazu als Beteiligter im blau-gelben Trikot auf der Tribüne. So eins hat er immer noch, ein altes Trikot von Löwen-Legende Lothar Ulsaß.
Seine Aufgabe liebt er auch noch heute. „Denjenigen die keine Augen haben, möchte ich ein lebendiges Bild schaffen, was genau in diesem Stadion passiert. Vom Platzwart bis zum Trainer, vom Fan, der über den Zaun springt, bis zum Auswechselspieler, der stolpert. Sie sehen mit den Ohren. Alles was ich aufnehme, will ich weitergeben.“ Dabei kennt er schon Bewegungsabläufe von Spielern und orientiert sich daran. „Bei Domi Kumbelas Kopfballspiel wusste ich einfach, dass er immer früher abspringt als andere. Das ist angelesen und angelernt.“ Viele Infos über die Akteure auf dem Feld sind für seine Arbeit auch wichtig. „Wir reden 45 Minuten pro Halbzeit durch, ohne Punkt und Komma.“ Dass dabei in der Hektik mal der Satzbau oder der Genitiv mit dem Dativ vertauscht wird, stört ihn nicht, denn sein Kommentar soll so lebendig wie möglich rüberkommen. Auch wenn es mal unübersichtlich ist, Bessler behält einen kühlen Kopf. Sein Blick richtet sich dabei selten auf die Stresssituationen, sondern die fußballerischen Szenen. Auf die genaue Beschreibung kommt es an. „Sehbehinderte stolpern natürlich auch über Ausdrücke wie „kurzer“ oder „langer“ Pfosten“. Ist der kurze Pfosten ein Meter lang und der lange Pfosten sechs Meter lang? Da muss man schauen, ob man den Blinden viele Fantasien wegnimmt. Es ist immer eine Gradwanderung.“ Ein Lob von den Zuhörern für seine Arbeit nach der Partie gibt ihm immer wieder Gänsehaut.
Auch als Lehrer war Bessler die ganze Zeit über ein wichtiger Pfeiler für seine Kollegen. Fred Lorenz stieß vor neun Jahren zum Team dazu. Auf einem Turnier der Braunschweiger Blindenfußballer lernte er Paul Bessler kennen. „Paul hat mich damals unter seine Fittiche genommen. Für mich war vieles neu. All das Handwerk, das ich mir angeeignet habe, konnte ich über die Zeit von ihm und Jochen Hoppe lernen. Für mich war er wie ein Ziehvater“, erklärt Lorenz. Er kann auch beschreiben, was Pauls Arbeit so besonders gemacht hat. Lorenz beeindruckt immer wieder, mit welcher Allgemeinbildung im Fußball und unglaublicher Beobachtungsgabe Bessler die Spiele verfolgt. „Ihn zeichnet einfach eine stoische Ruhe aus, mit der er die Sache angeht. Zudem hat er viele Anekdoten parat und kann teilweise noch über Geschichten aus den 60ern und 70ern sprechen.“ Für Lorenz zählt dabei aber auch das Menschliche, dass Bessler bei seiner Tätigkeit nie vergessen und stets gepflegt hat. „Wir begrüßen jeden Sehbehinderten und Zuhörer noch mit Handschlag und Umarmung. Da ist auch immer noch Zeit für ein Schwätzchen, auch nach dem Spiel.“ Allerdings ging es nicht nur auf der Tribüne sehr offen und herzlich zu. „Geprägt haben mich die gemeinsamen Autofahrten zu den Spielen, in denen aus zwei Kollegen dicke Freunde geworden sind. Wir sind da extrem aneinandergewachsen. Daran erinnere ich mich immer unglaublich gerne zurück.“
Nun beendet Bessler diese langjährige ehrenamtliche Arbeit. Lorenz hofft dabei, dass dieser Abschied am vergangenen Wochenende nicht das endgültige Ende war: „Wir wünschen uns, dass Paul ab und zu noch vorbeischaut. Auch unsere Sehbehinderten würden sich unheimlich freuen. Er hat viele von ihnen immerhin fast 20 Jahre mit seinem Schaffen begleitet. Wir hoffen natürlich, dass er uns bei den zukünftigen Heimspielen besuchen wird und vielleicht besteht ja dann auch die Chance, dass er nochmal ein halbes Stündchen mitkommentiert.“ Paul Bessler hat mit seiner Tätigkeit bei der Eintracht auch noch nicht ganz abgeschlossen: „Wenn einer von den anderen fehlt, stehe ich weiterhin zur Verfügung. Da lasse ich sie nicht im Stich.“ Für ihn ist es jedoch einfach wichtig, dass junge Leute diesen Job weitermachen. Er will kein Platzhalter sein. Aber dann und wann wird er auch in der kommenden Zeit als Fan auf den Rängen zu finden sein, da ist er sich sicher.
Danke für alles, Paul! Wir hoffen, dass wir Dich schnell wieder an der Hamburger Straße begrüßen dürfen.